Der Kirchenstaat wurde in den seit 1861 bestehenden Nationalstaat Italien zwangseingegliedert. Ausser sich vor Entrüstung stilisierte sich der damalige Papst Pius IX. zum «Gefangenen des Vatikans», eines Gebietes rund um die Peterskirche, winzige 44 Hektar gross und mitten im römischen Stadtgebiet gelegen. Die kirchliche Verwaltung konzentrierte sich ab diesem Zeitpunkt auf die Vatikanstadt. Dort bestand die Souveränität des Papstes de facto weiter, aber sie war rechtlich nicht abgesichert. Nach dem Gesetz war der Papst ein gewöhnlicher italienischer Staatsbürger.
Bis 1929 blieb eine vertragliche Regelung aus. Diesen fast 60 Jahre anhaltenden Konflikt um den Status Roms als italienische Hauptstadt und den staatsrechtlichen Status des Vatikans innerhalb Roms zwischen 1870 und 1929 bezeichnet man als die «Römische Frage». Sie wurde dann mit den Lateranverträgen endgültig gelöst. Mit ihnen legten Mussolini und Pius XI. fest, dass sich das weltliche Territorium des «Heiligen Stuhls» (Bischofssitz von Rom) fortan auf die Vatikanstadt beschränken würde. Damit wurde der Vatikan als Nachfolger des Kirchenstaates anerkannt und erhielt den rechtlichen Status einer eigenständigen Nation mit der Bezeichnung «Staat der Vatikanstadt», was den Päpsten ihre Souveränität zurückgab. Laut den Lateranverträgen besteht das eigentliche Territorium der Vatikanstadt nur noch aus den Palästen und Gärten innerhalb der vatikanischen Mauern, dem Petersdom und dem Petersplatz (siehe den Grundrissplan auf Seite 13). Der «Heilige Stuhl» verzichtete auf die Gebiete des alten Kirchenstaats und erkannte Rom als italienischen Regierungssitz an. Ausserdem verpflichtete sich der Vatikan zur Neutralität in internationalen Streitigkeiten, er durfte nur schlichtend eingreifen.
Am Abschluss der Lateranverträge hatten sowohl der Diktator über Italien als auch der Stellvertreter Gottes auf Erden ein grosses Interesse. Der eine wollte das Prestige seines faschistischen Regimes durch ein Abkommen mit der katholischen Kirche national und international aufwerten. Auch ging es ihm darum, die politischen Aktivitäten der «Azione Cattolica», einer 1867 gegründeten und von der Kirche gesteuerten Laienbewegung, in Italien im Zaum zu halten. Anderseits garantierte der Staatsvertrag Pius XI. die Souveränität des «Heiligen Stuhls» auf internationaler Ebene mit der Vatikanstadt als neuem Staat und dem Papst als Staatsoberhaupt. Die katholische Kirche erhielt mit den Verträgen auch zahlreiche Privilegien in Italien, insbesondere im Eherecht und in der Schulerziehung.
Das war vor allem Pius XI. wichtig, der sich in seiner antiliberalen Geisteshaltung durchaus mit seinem faschistischen Vertragspartner messen konnte. So vertrat er in seiner Enzyklika «Divini illius magistri», die er unmittelbar nach der Unterzeichnung der Lateranverträge veröffentlicht hatte, seine kruden Thesen zur Kindererziehung: Jede Erziehung irre, die die Erbsünde leugne und sich allein auf die Kräfte der Natur stütze. Ebenso gefährlich wie die Sexualerziehung sei die Koedukation von Jungen und Mädchen. Die neutrale, weltliche Schule werde früher oder später zu einer religionsfeindlichen Schule.
Pius XI. war auch der Auffassung, dass die Rasse und das Volk zu den Grundwerten menschlicher Gemeinschaftsgestaltung gehörten, die «innerhalb der irdischen Ordnung einen wesentlichen und ehrengebietenden Platz behaupten». Wer derart reaktionäre Thesen vertritt, hat keine Mühe, sich mit faschistischen Gewaltherrschern einzulassen. So schloss er denn auch, unmittelbar nach der Machtübernahme Adolf Hitlers, mit diesem den als Reichskonkordat bezeichneten Staatskirchenvertrag zwischen dem «Heiligen Stuhl» und dem Deutschen Reich ab. Vorbild waren die Lateranverträge mit Mussolini. Dieses Reichskonkordat ist heute noch gültig und stellt ein gravierendes Hindernis dar beim Versuch, in Deutschland Kirche und Staat zu entflechten.
Das Ende des Kirchenstaates 1870 hatte auch Einfluss auf die diplomatischen Beziehungen der Schweiz zum «Heiligen Stuhl». Der Bundesrat begann die Notwendigkeit einer Nuntiatur (Botschaft) in der Schweiz infrage zu stellen, obwohl der «Heilige Stuhl» als Völkerrechtssubjekt weiterhin bestand. 1873 verurteilte Papst Pius IX. im Rundschreiben «Etsi multa luctuosa» antikatholische Strömungen in der Schweiz. Der Bundesrat brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen ab.
Erst 1920 beschloss der Bundesrat, die Nuntiatur wieder zuzulassen – allerdings ohne eigene Vertretung im Vatikan. Dem Katholiken Giuseppe Motta war es gelungen, ohne grosse Publizität seine freisinnigen und reformierten Kollegen von der Notwendigkeit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem «Heiligen Stuhl» zu überzeugen. Der Beschluss kam auch deshalb zustande, weil die bürgerliche Schweiz nach dem Generalstreik von 1918 einen Umbruch der politischen Kräfte fürchtete und so zumindest «an der katholischen Front» eine Beruhigung zu erzielen hoffte.
In den 1990er-Jahren verursachte die Auseinandersetzung um den Churer Weihbischof und späteren Bischof Wolfgang Haas neue Spannungen. Der «Heilige Stuhl» und die Nuntiatur spielten dabei eine nicht unumstrittene Rolle. In diesem Zusammenhang wurde die Schaffung einer eigenen diplomatischen Vertretung beim Papst angeregt. 1991 ernannte der Bundesrat einen «Botschafter in Sondermission beim Heiligen Stuhl», ab 2004 nahm die Schweiz ihre Interessen mittels einer «Seitenakkreditierung» wahr, also immer noch ohne eigene Botschaft vor Ort.
Es war wieder ein katholischer Tessiner Bundesrat, wie seinerzeit Motta, der durch die Errichtung einer Botschaft der Schweiz am «Heiligen Stuhl» ein neues Kapitel in den Beziehungen zum Vatikan einleitete: Bundespräsident Ignazio Cassis weilte am 6. Mai dieses Jahres in Rom, traf den Papst, wohnte der Vereidigung der neuen Söldner der Schweizergarde bei – und weihte die neue Schweizer Botschaft ein. Damit habe er die «letzte Anomalie beseitigt», qualifizierte der «NZZ»-Journalist Luzi Bernet diesen Akt.
Im Bundesrat hatte Cassis wohl Unterstützung von Ueli Maurer und Guy Parmelin, beides Protestanten. Sie hätten sich, weiss Bernet, nach Besuchen im Vatikan beeindruckt gezeigt vom vatikanischen Apparat. «Gaudium Magnum» also oder mit Altbundesrat Adolf Ogi: «Freude herrscht»? Aber was ist denn nun so besonders am «vatikanischen Apparat», dass es sogar Schweizer Bundesräte beeindruckt?
Papst Franziskus, der keine Gelegenheit auslässt, auf die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in aller Welt zu pochen, ist Oberhaupt eines Gottesstaates, der sich niemals weder zu Rechtsstaatlichkeit noch zu Gewaltenteilung bekannt hat. Er hat weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch die Menschenrechtscharta der UNO und auch nicht das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Übereinkommen) unterzeichnet. Er gehört als einziges europäisches Land (ausser Belarus) auch nicht dem Internationalen Strafgerichtshof an.
Der Papst hat diktatorische Vollmachten: Das Grundgesetz des Vatikans hält in Artikel 1, Absatz 1 fest: «Der Papst besitzt als Oberhaupt die Fülle der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt.» In Glaubens- und Sittenfragen ist er zudem unfehlbar. Dass der Vatikan sich ohne Skrupel in die Angelegenheiten anderer Länder einmischt, ist bekannt. Wo liberale Gesetze zu Frauenrechten, Abtreibung, Homosexualität, Trennung von Kirche und Staat diskutiert werden, mischt sich der Vatikan ein. Und er hat auch die Mittel dazu. Der Schweizer Ex-Diplomat Paul Widmer: «Der Heilige Stuhl hat auf der ganzen Welt 3000 Diözesen und 40 000 Priester. Er weiss, was in der hintersten Ecke des Kongos passiert.» Katholische Geistliche in jedem Land müssen Gehorsam gegenüber dem Papst und ihrem Bischof versprechen. In einem Loyalitätskonflikt zwischen dem eigenen Land und den Weisungen des Oberhaupts des Vatikanstaates ist ein Priester daher ein notorisch unzuverlässiger Staatsbürger.