Die Erklärung der Welt war einst der Religionen Anspruch. Sie versprachen Antworten auf die Fragen nach dem Woher, Wofür, Wohin. Doch mehr noch als die Auflösung dieser existenziellen Ungewissheiten und lange bevor der frühe Mensch überhaupt Zeit fand, sich mit dem Anfang und Ende aller Lebewesen und aller Dinge, ihrem Sinn und Zweck zu beschäftigen, musste er sich um Handfesteres kümmern: Die tägliche Plackerei, die Suche nach Nahrung, nach sicherer und warmer Unterkunft, die Unterscheidung von Freund und Feind, von Mein und Dein, die Bedingungen für erfolgreiche Fortpflanzung und Aufzucht stellten Anforderungen, die den Einzelnen überforderten. Hier halfen höhere Mächte und vor allem die Vermittler zwischen diesen und dem Individuum. Die «Hilfe» hatte die Gestalt von Regeln und Tabus, die zu brechen mit schweren Strafen belegt war.
Doch schon lange vor dem Aufkommen religiöser Systeme war es für den Urmenschen eine zentrale Lebensaufgabe, den richtigen Partner zur Fortpflanzung zu finden und seine Gene zu streuen; denn so war es schon bei seinen tierischen Vorfahren. Er dürfte deshalb – noch ohne Religion – erste Regeln geschaffen haben, diesen Bereich so zu ordnen, dass innerhalb der Gruppe Streit und Gewalt verhindert werden konnten. Mit der Religion kam dann die Vorstellung von Göttern, die über Menschen und Welten wachten und herrschten. Was immer die Horde, der Stamm an Regeln bereits entwickelt hatte, es wurde jetzt an den Willen der Götter gebunden, um heilig und unverletzlich zu werden.
Die Funktion von Göttern war immer dieselbe: Sie hatten nach Aussage der Schamanen und Priester die Regeln und Rituale befohlen, nach denen die Menschen zu leben hatten. Diese Götter waren zu verehren, ihre Herrschaft gab jeder menschlichen Herrschaft Legitimität. In diese Ordnung baute man auch den Schutz des Eigentums ein. Dabei war wiederum das Eigentum an Frauen und Töchtern von höchster Bedeutung. Es dürfte darum im Interesse der Männer gewesen sein, auch die Regeln der Sexualität zu einem zentralen Element göttlicher Vorschriften zu machen – und zwar so, dass ihre Herrschaft über die Sexualität der Frauen religiös verankert wurde.
So wird verständlich, dass fast alle Religionen den Bereich der Sexualität und Fortpflanzung fast nur im Sinne männlicher Ansprüche geregelt haben. Sexuelle Vorschriften für den Mann betrafen meist nur die Verdammung von Homosexualität und Onanie – zwei sexuelle Praktiken, die nicht zur Fortpflanzung und Stärkung des Stammes führen. Demgegenüber waren die Sexualregeln für die Frauen viel umfassender, insbesondere was den Ehebruch beziehungsweise die Prophylaxe dagegen betrifft. Das alles findet sich in den Büchern Mose ebenso wie im Koran, aber auch in Kulturen ohne solche heiligen Schriften, etwa im hinduistischen Indien, dem wenig religiösen China und in einigen buddhistischen Kulturen.
Mit dem Eigentum an Frauen und Töchtern war das Eigentum an anderen Dingen eng verknüpft – möglicherweise weil dieses Eigentum etwa an Land und Vieh an die eigenen Kinder weitergegeben werden sollte, nicht etwa an Kuckuckskinder, die die Frau aus einer anderen Beziehung hätte haben und unterschieben können. Bezeichnenderweise fasst das 10. Gebot von Moses «Frau, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat» in einen zu schützenden Eigentumsbegriff zusammen.
Der US-amerikanische Psychologe Michael McCullough hält die These für keinesfalls abwegig, dass es bei Religion sogar hauptsächlich um Sex geht. Das zeigen auch die Ergebnisse einer Studie, die feststellte, dass streng religiöse Menschen die Einhaltung der sexuellen Moralvorstellungen sehr viel genauer nehmen als die Befolgung anderer Ge- und Verbote, etwa Ehrlichkeit und Liebe zum Mitmenschen.
Diese Sexualfixierung der Religionen nahm mit deren Bedeutungsverlust nicht etwa ab, sondern wurde immer stärker. Nachdem die Philosophie gezeigt hatte, dass sie Ethik und Moral auch ohne Religion befriedigend begründen kann, und die Naturwissenschaften die Götter und ihre Geschichten als These für die Weltbegründung obsolet gemacht hatten, blieb den Glaubenstreuen nur, sich auf das Private und Intime zurückzuziehen. Denn vieles, was in den Religionen aus früherer Zeit aufgenommen worden ist, hat sich verselbstständigt und verkrustet. Es wird von den Glaubensoberen weiter verteidigt, weil man es nun einmal als Gottes Gebot (oder das eines Propheten) verkündet hat. Aus dieser Selbst-Einmauerung kommen sie nicht mehr heraus – ja, sie wollen auch gar nicht herauskommen, weil man dann Irrtümer einräumen müsste, die die Aura der Priester zerstören würden, Gottes unmittelbare Gesetze zu kennen.
Für die Milliarden von Menschen, insbesondere Frauen, die wegen religiöser Dekrete eines freien Lebens beraubt bleiben, ist es allerdings gleichgültig, welche Gründe die Kleriker aller Religionen haben, sexfixiert Freiheitsberaubung zu begehen, ja besessen zu sein von der Idee, Sex sei das Einfallstor des Satans.
Hier lohnt sich vielleicht ein kurzer Blick auf einige stupide und menschenverachtende Sexualvorschriften der verschiedenen Religionen. Sie reichen von der massenhaften Kindsmisshandlung im Judentum und Islam (Brit Mila beziehungsweise Chitan) bis zur Tötung von Homosexuellen.
Homosexuelle Handlungen werden in den meisten islamischen Ländern streng verfolgt. Zehn Länder sehen für sexuelle Handlungen zwischen zwei Männern gar die Todesstrafe vor. Die Islamische Republik Iran hat seit 1979 rund viertausend Todesurteile gegen Homosexuelle vollstreckt, deren Leichname zur öffentlichen Abschreckung an Baukränen aufgehängt wurden.
Die muslimische Welt zeigt sich heute rigider in sexuellen Fragen als der christliche Westen. Historisch hat der Islam Sexualität und Erotik bejaht – allerdings in den engen Grenzen der Ehe. Das arabische Wort für Ehe, «Nikah», heisst auch Geschlechtsverkehr. Wer bei ausserehelichem Sex erwischt wird, muss je nach Rechtsschule und Land mit drakonischen Strafen wie Steinigung, lebenslangem Hausarrest oder Stockschlägen rechnen: «Eine Frau und ein Mann, die Unzucht begehen, geisselt jeden von ihnen mit hundert Hieben.» (Koran, Sure 24,2)
Islamische Gesellschaften sind männlich dominiert. So darf sich der Mann in der Theorie mehrere Ehefrauen nehmen. Sexualität wird stets vom Mann aus gedacht: «Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu diesem eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt!» (Koran, Sure 2,223)
Frauen müssen zwingend jungfräulich in die Ehe.
Im orthodoxen jüdischen Gottesdienst sind die Frauen zweitklassig, sie dürfen weder aus der Thora vorlesen noch den Gottesdienst als Vorbeterinnen leiten. Der männliche Samen gilt in der jüdischen Lehre als so wertvoll, dass der Mann keinen einzigen Tropfen davon verschwenden darf. Jeder einzelne Same soll der Fortpflanzung zukommen und weder in einem Taschentuch noch in jemandes Anus oder Mund landen.
Selbstbefriedigung, Kondome, Coitus interruptus, Homosexualität gelten daher als schwere Vergehen.
Die Thora verbietet Sex vor der Ehe, wenn nicht eine darauffolgende Bindung folgt. Haben also zwei unverheiratete Menschen miteinander Sex, sollte eine Heirat folgen. Ultraorthodoxe Juden kennen keinen Sex vor der Ehe.
Das Verhältnis des Christentums zur Sexualität, insbesondere in seiner katholischen Ausprägung, hat Papst Innozenz III. trefflich ausgedrückt: «Geschaffen ist der Mensch aus Staub, aus Lehm, aus Asche, und was nichtswürdiger ist: aus ekelerregendem Samen. Empfangen ist er in der Geilheit des Fleisches, in der Glut der Wollust, und was noch niedriger ist: im Sumpf der Sünde.» (Innozenz III.: «Über das Elend des menschlichen Daseins», 1195)
Die Frau – Nachfolgerin von Eva – wurde als Urquell aller Sünden betrachtet. Sie musste gezügelt werden. In scharfem Kontrast zu Eva steht Maria, die Jungfrau: ein asexuelles und keusches Wesen, das trotzdem Mutter wurde. Zwei Frauenbilder – das eine abschreckend, das andere unerreichbar.
Auf Jesus Christus und das Neue Testament lassen sich die katholischen Sexualkonzepte kaum abstützen. Der Zölibat wurde erst gut tausend Jahre nach Christus zur Pflicht für Priester ausgerufen – mit der Folge, dass heute 50 Prozent der Priester schwul seien, wie der polnische Ex-Priester Krzysztof Charamsa schätzt. Auch die Eheschliessung, die heute in der katholischen Kirche als heiliges Sakrament gilt, und das Sexverbot vor der Ehe entwickelten sich erst vor tausend Jahren zu einer kirchlichen Angelegenheit.
Für Buddha ist Leben Leiden, und die Wurzel des Leidens liegt im sinnlichen Begehren. Alles Wollen soll überwunden werden. Lust und Vergnügen muss man bekämpfen. Der Orgasmus täuscht das Nirwana vor und bringt einen davon ab, das wahre Nirwana zu suchen. Sexuelle Lust soll in geistige Energie umgewandelt werden. Denn nur der Geist zählt.
Die Frau war für Buddha eine Gefahr, da sie den Mönch verführen könnte. So soll er gewarnt haben: «Besser wäre es, Einfältiger, wenn dein Geschlecht in den Mund einer giftigen und schrecklichen Schlange eindränge, als dass es in eine Frau eindringt. Besser wäre es, Einfältiger, wenn dein Geschlecht in einen Backofen eindränge, als dass es in eine Frau eindringt.»
Sie treiben es in allen möglichen Stellungen – verrenken sich zu zweit, zu viert, zu fünft: die hinduistischen Gottheiten aus Stein an den Tempelfassaden von Khajuraho. Die Skulpturen im indischen Dschungel sind rund tausend Jahre alt und zeugen von der Bedeutung, die Hindus der Sexualität beimessen. Sie gilt als Quelle spiritueller Energie und heilige Kraft, die Nachkommen schafft. Kama bezeichnet eines der vier hinduistischen Lebensziele: Es steht für Liebe zwischen Mann und Frau, für sexuelles Vergnügen und Begehren.
«Der Hinduismus ist wie ein wuchernder Urwald, jahrtausendealt», sagt der Theologe Georg Schwikart. Eine Vielzahl von Göttern bevölkert diesen Urwald, «und es gibt keine Instanz, die die Dinge von oben regelt». Der Hinduismus sei daher grundsätzlich offener und liberaler als andere Religionen –
die Sexualmoral sei mit der Zeit aber immer strikter geworden.
Das zeigt sich in zwei gegensätzlichen Strömungen des Hinduismus: der Askese und dem Tantrismus. Die einen beschwören die völlige Enthaltsamkeit, die anderen zelebrieren Sex und insbesondere den weiblichen Körper. So sehr die Frau im Ritual als Göttin verehrt wird: In der Realität gilt sie allerdings als Besitz des Mannes. Das zeigt etwa die Witwenverbrennung. Nach dem Ideal müssten Witwen ihrem toten Ehemann auf den Scheiterhaufen folgen. Denn die Frau verliere ohne Mann ihre Daseinsberechtigung.