Das Dementi kam ausgerechnet von Radio Vatikan: «Gorbatschow bleibt Atheist!» Das war am 27. März 2008. Michail Gorbatschow, der frühere Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands, hatte Presseberichte zurückgewiesen, wonach er Christ sei. Britische Medien hatten behauptet, der damals 77-Jährige habe vor Ostern im italienischen Assisi eine halbe Stunde lang auf Knien am Grab des Franz von Assisi gebetet. Gorbatschow erklärte dann aber, er habe das Grab als Tourist und nicht als Pilger besucht. Er besichtige gerne Kirchen, Synagogen und Moscheen. Aber deswegen könne man ihn nicht als Gläubigen bezeichnen: «Ich bin nach wie vor Atheist.»
Nachdenken über Gott
Dabei gab es eine Zeit, in der er schwankte – als seine Frau Raissa Maximowna in den 1990er-Jahren mit Leukämie im Spital lag. Da fragte er sich, was ausser der ärztlichen Kunst noch helfen könne. «Vielleicht wird uns auch der Herrgott nicht vergessen», bemerkte der Atheist gegenüber dem «Spiegel». In solchen Momenten der Verzweiflung fange man an, auch über Gott nachzudenken. Nach Raissas Tod im September 1999 fiel er in ein tiefes Loch. Die charismatische Soziologieprofessorin war seine grosse Liebe gewesen und hatte stets an seiner Seite gestanden.
«Die Frau im Kreml», wie der «Spiegel» damals titelte, war eine elegante und emanzipierte Philosophieprofessorin, die Hand in Hand zusammen mit Gorbatschow öffentlich auftrat und der Welt signalisierte, dass die trüben Zeiten des Kalten Kriegs vorbei seien. Den grauen, missgelaunten Funktionärsgattinnen im Osten war sie ein Graus, doch sie war auch Vorbild für die Frau, Mutter und Grossmutter des kommenden Russlands. Derweil sorgte Gorbatschow mit Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) für weltweites Aufatmen durch die Abkommen mit den USA zur atomaren Abrüstung, setzte neue Akzente in der sowjetischen Politik, lockerte die Reisebestimmungen, löste die Straflager auf – und der Atheist gab den Russen sogar die Religionsfreiheit zurück.
Michail, der falsche Name
Geboren wurde der Sohn eines Mähdrescherfahrers im Nordkaukasus am 2. März 1931 und hiess, dem Wunsch der Eltern folgend, zwei Wochen lang Viktor. Als dann aber der Pfarrer bei der Taufe wissen wollte, wie das Kind heissen soll, rief der Grossvater «Michail». «So funktionierte Demokratie damals», scherzte Gorbatschow gegenüber dem «ZDF» 2016.
Nach der Schule studierte Gorbatschow Jura an der Lomonossow-Universität Moskau. Dort habe er erst mal lernen müssen, wie man Rolltreppe und U-Bahn fahre. Und seine Kommilitonen hätten ihn als Hinterwäldler verspottet. Gorbatschow war bettelarm, er lief ohne Socken herum und wochenlang im gleichen, einzigen Anzug. An einer Tanzveranstaltung lernte er dann aber 1952 die Soziologie-studentin Raissa Titarenko kennen. Sie änderte sein Leben und eine atemberaubende, von Reformen geprägte Politkarriere begann. Letztlich bedeutete die Öffnung nach Westen das Ende des Sowjetreichs, was ihm, dem einst mächtigsten Mann der Welt, viele in seiner russischen Heimat nie verziehen haben. Für manche ist er gar ein Landesverräter.
Sorge um die Ukraine
Gorbatschow zog sich 1991, nach seinem unfreiwilligen Rücktritt aus der Politik, zwar ins Privatleben zurück, mischt sich aber fortlaufend ins politische Tagesgeschehen ein: unter anderem als Herausgeber der Zeitung «Nowaja Gaseta», «damit unabhängige Stimmen nicht verstummen». Russlands Präsident Wladimir Putin hat sie unlängst verboten. Dennoch verteidigt Gorbatschow seine Heimat. Zu «Bild» sagte er: «Niemand macht sich mehr Sorgen um die Ukraine als wir Russen. Meine Mutter war Ukrainerin. Und die zweite Frau in meinem Leben, die ich ebenfalls verloren habe, Raissa, war auch Ukrainerin.»